Disclaimer: Falls jemand, der dicker ist als ich den folgenden Text liest und sich fragt, was für ein Problem ich eigentlich habe: Bitte bedenkt, dass es nichts mit dem tatsächlichen Gewicht zu tun hat, wie dick man sich fühlt. Es gibt Leute, die wiegen 200 Kilo und finden sich fabelhaft. Und es gibt Leute, die sind magersüchtig und finden sich dennoch zu fett. Hier geht es darum, sich hässlich und unzulänglich zu fühlen, was unabhängig vom Gewicht passieren kann.

März 2017: Ich bin mit meinem Freund über ein langes Wochenende nach Porto geflogen. Das war mein Geburtstagsgeschenk an ihn und wir machen uns ein paar richtig schöne Tage mit leckerem Essen und Stadt erkunden. An einem Tag leihen wir Räder aus und fahren zum Meer. Manuel macht ein Foto von mir auf meinem Fahrrad und lädt es bei Facebook hoch. Als ich das Foto sehe, steigt die Scham in mir hoch: „Ach herrje, ich sehe fett aus! Meine Arme sehen fett aus! Und meine Beine! Und überhaupt, was ist da mit meinen Haaren los?“ Mich stresst der Gedanke, dass andere Leute mich so im Internet sehen können und ich vorher nicht in der Hand hatte, mein Foto selbst auszuwählen. Denkt jetzt jemand schlecht über mich und beurteilt mein Aussehen als nicht gut genug? Ich fühle mich hilflos. Die Sache beschäftigt mich so, dass sie das erste ist, an das ich morgens nach dem Aufwachen denke.

porto

Eine ähnliche Situation einige Monate später: Ich kehre nach einem wunderschönen Yogafestival in Spanien nach Hause zurück und die wunderbaren Frauen, die ich dort kennengelernt habe, posten Fotos unserer gemeinsamen Zeit bei Facebook. Auf einem Foto bin ich mit Ines am Strand und habe nur ein Trägerkleid an. Etwas, was ich selten mache, da meine Arme durch die Zunahme in meiner Teeniezeit (Link) an den Innenseiten Dehnungsstreifen und zu viel Haut haben. Ich sehe sie als einen „meiner Makel“, wie man so schön sagt. Es fällt mir zunehmend leichter, sie zu zeigen, dennoch bin ich mir ihres Aussehens stets bewusst und versuche noch oft, die überschüssige Haut zu kaschieren. Auch dieses Foto beschämt mich zutiefst und ich möchte es nicht in meiner Timeline und damit in Verbindung mit mir sehen. Statt Sonne, Strand und Meer sehe ich nur: Meine dicken Arme.

malaga

Wenn andere Menschen Fotos von uns im Internet veröffentlichen, kann das unser Selbstbild in Frage stellen. Unsere Internetpräsenz ist oftmals eine Parallel-Identität, die wir sorgsam kuratieren und selbst verwalten. Wenn wir dann Fotos sehen, die andere von uns machen und veröffentlichen, kann uns das aus der Bahn werfen.

Dagegen möchte ich jetzt eine Aktion starten. Letztes Jahr habe ich an diesem Eindruck von mir selbst, meiner Selbstliebe und -akzeptanz sehr viel gearbeitet. Was ich getan habe, habe ich hier (Link) dokumentiert und ich kann von Herzen sagen, dass meine Körperwahrnehmung inzwischen viel besser geworden ist. Deshalb fielen mir letztens die Fotos wieder ein und ich habe beschlossen, sie zu zeigen und zu teilen.

Wieso ist mir das wichtig? Damit möchte ich einerseits zeigen, dass wir alle schwache Stellen haben, Dinge, für die wir uns schämen und dass sich jeder Mensch verletzlich fühlen kann. Die berühmte Schamforscherin Brené Brown sagt, dass Scham das mächtigste aller Gefühle ist, weil sie uns das Gefühl gibt, nicht gut genug zu sein. Wenn wir unsere Geschichten unter verständnisvollen Personen teilen und damit Verbundenheit schaffen, kann Scham nicht überleben. Indem ich selbst entscheide, diese Fotos zu teilen, hole ich mir die Machthoheit darüber. Es ist meine Entscheidung und ich bin dafür verantwortlich, entkräftige also das Ohnmachtsgefühl, das entsteht, wenn jemand anderes unangenehme Fotos von uns teilt. Außerdem ermutige ich euch damit, dasselbe zu tun. Lasst uns alle Fotos von uns teilen, auf denen wir uns initial nicht gut fanden!

Denn, und auch das kommt hinzu, oft ist dieser erste Eindruck nicht das, was bleibt. In der Retrospektive, manchmal erst nach Jahren, kommt der Moment, in dem wir uns selbst mit milderen Augen sehen. Wie oft habe ich schon gehört, dass Frauen alte Fotos ansehen und sagen „Wow, damals habe ich mich so dick gefühlt, dabei war ich einfach nur jung und schön und hätte mein Leben genießen sollen!“ Hätte, hätte, Fahrradkette – Wir wissen erst zu schätzen, was war, wenn es vorbei ist, das ist oftmals eine bittersüße Wahrheit. Der zeitliche Abstand zu einem Foto gibt uns selbst die Möglichkeit, das vergangene Ich mit liebevolleren Augen zu betrachten. So ist es auch für andere Menschen, die uns mögen: Sie sehen unsere vermeintlichen Makel meistens nicht. Weil sie nicht das eine, schreckliche Foto sehen, sondern uns als ganzen Menschen wahrnehmen und viel weniger streng betrachten. Es heißt ja auch: Schön ist, was man mit Liebe betrachtet. Ich wünsche mir, dass wir alle diesen liebevollen Blick auf uns selbst einnehmen können und zwar jetzt und hier und nicht erst, wenn wir alt sind und gar nicht mehr wissen, was wir mal mit der Person auf dem Foto gemeinsam hatten. Jetzt ist der Zeitpunkt, uns selbst anzunehmen wie wir sind, jetzt, denn so jung kommen wir nicht mehr zusammen und der perfekte Zeitpunkt ist eh eine Illusion! 🙂

Ich werde die „unvorteilhaften“ Fotos von mir hier und bei Instagram teilen. Bist du dabei? Dann tagge deine Fotos mit #ichunvorteilhaft und lass uns gemeinsam unsere verletzliche Seite zeigen! Denn gemeinsam sind wir stärker und treten der Scham einmal kräftig in den Hintern. 😉

Quelle: Brené Brown: Die Gaben der Unvollkommenheit: Leben aus vollem Herzen, 2012.